Vortrag von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm
Über den Rechtscharakter und über Tendenzen zur Politisierung der Verfassung hat am Dienstag, den 6. Juni 2023, der Rechtsgelehrte Professor Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm in Freiburg gesprochen. Nach Ansicht von Grimm kann das politische System die dem Recht zugedachte Funktion des verbindlichen Entscheidens nicht übernehmen. Wer einem politischen Verständnis des Verfassungsrechts das Wort rede und damit zwangsläufig auch ein Ende der Verfassungsgerichtsbarkeit fordere, setze damit die wichtigste Errungenschaft der beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts aufs Spiel, sagte der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts. Entsprechende Ansätze im neueren angelsächsischen Schrifttum, die noch in der Zeit „vor Trump“ entstanden seien, idealisierten das demokratische Entscheiden und blendeten die in der politischen Wirklichkeit erkennbaren Defizite aus. Zugleich müsse allerdings auch die Verfassungsgerichtsbarkeit immer wieder kritisch in Frage gestellt und dürfe nicht „verherrlicht“ werden. Mit Blick auf die Europäische Integration gab Grimm zu bedenken, dass der Gerichtshof der Europäischen Union immer wieder gezwungen gewesen sei, Krisen zu bewältigen, an die bei der Abfassung der Europäischen Verträge niemand gedacht habe. So sei es zu erklären, dass die Entscheidungen „möglicherweise nicht immer“ rechtlich korrekt begründbar gewesen seien. Auch ein nationales Verfassungsgericht müsse den Text der Verfassung in sehr viel stärkerem Maße inhaltlich anreichern als etwa ein Zivilgericht. Es sei dabei aber im Vergleich zum Gerichtshof leichter durch den verfassungsändernden Gesetzgeber korrigierbar und unterliege einer dichteren Kontrolle im öffentlichen und fachlichen Diskurs. Die nationalen Verfassungsgerichte besitzen deshalb im Vergleich zu den internationalen Gerichten nach Ansicht von Grimm eine höhere Legitimation zur Weiterentwicklung des Rechts.
Dem Vortrag Grimms lauschten im Kollegiengebäude I rund 150 Studierende, wissenschaftliche Mitarbeiter und Professoren. Grimm war auf Einladung von Professor Johannes Masing, einer der Direktoren des Instituts für Öffentliches Recht, nach Freiburg gekommen. Er hatte einen Teil seiner Studienzeit selbst in Freiburg verbracht – und rückblickend frage er sich, so Grimm, ob er nicht einfach hier hätte bleiben sollen.