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Tagungsthema 2018

Recht, Rechtswissenschaft(en) und Irrtum

Das Problem der fehlerhaften rechtlichen Entscheidungen

„Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig?“, wurde von dem jungen Carl Schmitt anno 1912 als „die entscheidende Frage“ in seiner Erstlingsschrift „Gesetz und Urteil“ aufgeworfen. Viele namhafte Autoren haben sich im vergangenen Jahrhundert mit dieser Frage befasst und sie erweitert: Was macht eine rechtliche Entscheidung zu einer richtigen Entscheidung? Ihre Übereinstimmung mit moralischen Standards? Der faktische Gehorsam der Normunterworfenen? Oder ist es einfach eine Frage von Machtstrukturen? Gibt es Kriterien für die rechtliche Richtigkeit (Rechtmäßigkeit) von Entscheidungen?

Diese Tagung will die Problematik umdrehen und fragen, was passiert, wenn eine Entscheidung nicht richtig ist. Anders formuliert: Wie geht das Recht und wie sollte es mit Rechtsfehlern umgehen?

Die Problematik der Rechtsfehler ist jedem Juristen und jeder Juristin bekannt: Das Strafrecht bietet von Tatbestands- und Verbotsirrtümern über Fehler bei der Beweiserhebung und -würdigung und im Strafvollzug bis zur strafrechtsphilosophischen Frage, wie mit der Verurteilung Unschuldiger oder dem Freispruch Schuldiger umgegangen wird, eine Fülle von Irrtumsproblematiken. Der Fall des Gustl Mollath ist hier wohl eines der am meisten rezipierten aktuellen Verfahren. Im Zivilrecht wird schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Autoren wie Ernst Zitelmann die Thematik der Irrtümer in Rechtsgeschäften diskutiert. Mangelhafte Willenserklärungen bilden noch heute das tägliche Brot der Privatrechtspraxis. Im Öffentlichen Recht sind die Lehre vom fehlerhaften Verwaltungsakt von Otto Mayer, die Unterscheidung zwischen Vernichtbarkeit und Nichtigkeit oder die Frage des Rechtsschutzes gegen den Richter nur einige Beispiele der Behandlung von Rechtsfehlern. Jede Fachsäule findet spannende, mal rein dogmatisch, mal rechtsphilosophische oder -theoretische Lösungen. Oft bleibt es aber bei Diskussionen in der jeweiligen Fachsäule, fragt die eine Disziplin nicht nach den Versuchen der anderen. Eher selten wurde eine gemeinsame, die verschiedenen Säulen der deutschsprachigen Rechtswissenschaft umfassende Reflexion zum Problem der Rechtsfehler oder Rechtsirrtümer in Gang gesetzt. Ist es nicht möglich und sinnvoll, auch säulenübergreifend zu fragen: Was ist unter der Kategorie des Rechtsfehlers zu verstehen? Wie ist umzugehen mit Fehlern bei der Rechtserzeugung oder -anwendung, mit Irrtümern bei der Auslegung von Rechtstexten? Stünden dem Gewinn der übergreifenden Perspektive Einbußen gegenüber? Das ist die Kernproblematik, zu deren thematischer Ausarbeitung wir Sie einladen möchten.

Dabei kann und darf auch die interdisziplinäre Sicht auf das Problem nicht fehlen. An der Schnittstelle  von  Recht  und Technik  tauchen  gleich  mehrere  Probleme  auf:  Algorithmen  prägen zunehmend die Verarbeitung von Informationen und sind wegen ihrer Allgemeinheit hochgradig fehleranfällig. Auch der Rechtsanwender ist angesichts der Komplexität der technischen Praktiken häufig überfordert, setzt Rechtsfolgen, die nicht umsetzbar oder zielführend sind. Die Neurowissenschaften werfen ein neues Licht auf das Zustandekommen von Fehlentscheidungen und systematischen Trugschlüssen im Entscheidungsfindungsverfahren. Soziologisch können die Auswirkungen von Rechtsirrtümern in verschiedenen Sektoren der Rechtserfahrung ermittelt werden, wie etwa bei der Verhaftung von Unschuldigen oder bei der Erzeugung und Stabilisierung von Erwartungen durch Fehlurteile. Philosophisch kann man ausgehend von zeitgenössischen Ansätzen das begriffliche Paar „richtig/unrichtig“ thematisieren, sowohl im Blick auf die Möglichkeit der Identifizierung von rechtlichen Fehlern als auch auf die Grenzen oder Potenzialitäten der rechtstheoretischen Kategorie des Irrtums.